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Bin ich schon draussen?

13. Januar 2010

Ein Schimpfwort aus frueheren, internetten Tagen lautet: "Zugangssoftware". Ohne die ging frueher zunaechst wenig, nahezu jeder Internetprovider versuchte, dem Kunden zunaechst ein eigenes Portal vorzusetzen, mit dem er sich im Idealfall identifizieren sollte. "Bin ich schon drin? – Das ist ja einfach" wunderte sich Boris Becker als Werbe- und Sympathietraeger fuer "America OnLine", kurz AOL, noch vor ungefaehr zehn Jahren innerhalb eines populaeren Werbespots. Tatsaechlich trafen die Macher damit den beruehmten Nagel auf den Kopf, denn fuer Unbedarfte war AOL tatsaechlich ziemlich einfach gestrickt und sprichwoertlich "oberflaechlich".

Nach dem Einloggen erschien eine (in spaeteren Jahren leider mit Werbung ueberschwemmte) Zugangsmaske, die das Internet als solches zu integrieren versuchte. Das, was heutzutage normal ist, naemlich das direkt eine selbstdefinierte Startseite erscheint, waere damals nahezu undenkbar gewesen. Auch andere Provider stellten ihre Login-Prozeduren entsprechend so um, dass zunaechst die Heimseite des Providers selbst erschien. Die Kunden wollten das nicht, fanden oftmals "Umwege" und gluecklicherweise haben die allermeisten Anbieter mittlerweile gelernt und entsprechend reagiert.

Waehrend bei AOL noch fleissig die Fleurop-Fensterchen aufpoppten, konnte man anderweitig direkt und zunaechst unbehelligt ins Netz gehen. Teure Werbeaktionen wie das Ueberfluten der Kunden-Postkaesten mit Zugangs-CDs fuehrten eher zur Belustigung der Internetgemeinde, denn diese CDs wurden vielerseits nicht ihrem eigentlichen Verwendungszweck zugefuehrt und es gab unendlich viele Bastelbeispiele im Netz. Sie dienten als Eiskratzer, Blitzer-Blenden oder Tuerstopper und wurden im Rahmen einer grossangelegten Sammel- und Protestaktion eines Tages sogar tonnenweise per LKW zur AOL-Zentrale gebracht und dort ausgekippt…

Ich war auch mal AOL-Kunde. Ganz am Anfang. Und jetzt, da Hansenet ("Alice") vor ein paar Jahren das AOL-Endkundengeschaeft aufgekauft hat, bin ich es streng genommen wieder, aber gluecklicherweise ist von all dem, was AOL damals ausgemacht hat, nichts mehr zu bemerken, denn Alice hat AOL in bester Borg-Manier assimiliert. Doch frueher, da war AOL absolut dominant bzw. versuchte, es zu sein. Der selige "Netscape Navigator" war der angesagte Browser schlechthin. Ziemlich schnell war man dem Werbe-Treiben der "AOLler" und ihrem proprietaer-beiinflusstem IP-Protokoll ueberdruessig und verfluechtigte sich ins Linux-Lager. Linux und AOL? Das ging zunaechst gar nicht. Ein Anruf bei der dortigen Hotline bestaetigte den Verdacht: "Nein, sie MUESSEN die Zugangssoftware installieren, sonst klappt es nicht. Mit Linux kommen sie wohl nicht weit, aber ehrlich gesagt kennen wir uns hier damit auch nicht aus." Tja… mit WINE und etwas Frickelei ging es dann doch, aber das habe ich denen dann nicht mehr verraten. Die hiesige AOL-Aera waehrte ohnehin nur kurz…

In Deutschland verlieren die restlichen, ca. 140 Mitarbeiter nun ihre Arbeitsplaetze, auch einige Standorte in anderen europaeischen Laendern sowie in den USA werden geschlossen. AOL stirbt.

Woran hat’s gelegen?
"AOL hat das Netz nicht verstanden", schreibt die Sueddeutsche in einem lesenswerten Artikel.

(…) Doch Schuld am folgenden Niedergang trug auch das klassische Mediendenken, von dem sich die Verantwortlichen nicht lösen konnten (…) Die Verantwortlichen träumten zu lange von einer Plattform, die so viel bietet, dass die Nutzer sie niemals verlassen müssen – auch noch, als Google mit seiner Suche das Netz bereits endgültig dezentralisiert hatte und die Nutzer in alle Richtungen verstreute. (…) Schon damals gab das Unternehmen weltweit die Strategie aus, nun eine Plattform für Inhalte sein zu wollen und sich über Werbeerlöse zu finanzieren. Doch mehrere Chefs konnten das Deutschlandgeschäft nicht in die Spur bringen, beim Aufstieg der sozialen Netzwerke blieb AOL diesseits wie jenseits des Atlantiks Zuschauer. (…) Mit AOL Deutschland ist ein Internet-Pionier gescheitert, der in einem Zeitalter der Veränderungen zu lange die Zeichen der Zeit übersah. (…)

Friede seiner digitalen Asche…

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